Dieses Interview erschien am am 17. Juli 2024 auf New Classical Guitar https://newclassicalguitar.beehiiv.com/p/ausgabe-9. Besucht sie doch mal und abonniert den Newsletter - es lohnt sich sehr!

Im Kanon des klassischen Gitarrenrepertoires ist die Bezeichnung „unterrepräsentiert“ für Komponistinnen noch eine nette Umschreibung! Wie kommt das?

Tja, wir können uns vor allem beim 19. Jahrhundert bedanken, wo das Bürgertum mit seinen patriarchalen Strukturen Frauen einen sehr beschränkten Platz in der Gesellschaft zuwies: nämlich Kinder, Küche, Kirche. 

Viele Strukturen im klassischen Musikbetrieb sind in dieser Zeit entstanden und wirken bis in unsere Zeit nach. Sämtliche Bereiche der Musikausübung, von Orchesterbetrieb und Hochschullehre bis hin zur Musikwissenschaft und Musikkritik, waren männlich dominiert, und damit auch der Werkekanon. Es hat sich vieles geändert, aber wer sich heute ein typisches Examensprogramm anschaut, wird auch dort nur sporadisch ein Werk einer Komponistin entdecken.

Dann gab es natürlich auch immer einflussreiche Künstler*innen-Persönlichkeiten wie Andrés Segovia, die den Kanon für unser Instrument maßgeblich mitbestimmt haben. Dass Segovia Werke ablehnte, die nicht seinem Geschmack entsprachen, ist ja kein Geheimnis – und das waren bei weitem nicht nur Werke von Frauen. Als Beispiel fällt mir da Teresa de Rogatis ein, die mit ihren Stücken eine Brücke zwischen Impressionismus und Neoklassik schlägt. Vielleicht hätte sie viel mehr komponiert, wenn Segovia sie wahrgenommen hätte? 

(Link: Teresa de Rogatis: Sonatina, 1. Adagio) https://youtu.be/zr8sg0TZ0Eg?si=1f2j_nX06zufMgWS

Das Thema hat viele Dimensionen – sicher ist die Gitarre da nur ein kleiner Bereich, aber für uns so wichtig! Wer sich in der Tiefe einmal selbst informieren möchte, dem empfehle ich Eva Riegers Buch mit dem abschreckend herrlichen Titel Frau, Musik & Männerherrschaft

Wann hast du dich des Themas angenommen? Kannst du dich an den Initialpunkt erinnern? Und was ist seitdem passiert?

Das war etwa 2020, während der Pandemie. Vermehrt machte ich mir zu solchen Themen Gedanken – es gab ja wenig Ablenkung. Ich verschlang einiges an Büchern, die mich bewegt haben, z. B. Invisible Women von Caroline Criado Perez – eine Empfehlung meiner argentinischen Kollegin Carolina Folmer. Aber der Blick in die Gitarrenszene und auf die Programme in Konzerten, Wettbewerben und bei Festivals hat mir nicht mehr gefallen. Irgendwann stand dann die Frage im Raum: Warum spiele ich eigentlich so gut wie nie ein Werk von einer Frau? Und was bedeutet das für mich, als Musikerin? 

Ich habe dann recherchiert, im Austausch mit anderen Gitarristinnen wie Heike Matthiesen, die ja eine wahre Enzyklopädie für Komponistinnen war, mit Jiji Kim und Kolleginnen vom Netzwerk Gitarre Berlin (Link: https://www.netzwerkgitarreberlin.de). Diese Bildungslücke begann sich langsam für mich selbst zu schließen – und tut es immer noch.

Eigene Arrangements, Kammermusik, Solostücke, Konzerte – es gibt eine ganze Welt zu entdecken!

Zu keinem Zeitpunkt sollte es darum gehen, unser geliebtes “Standardrepertoire” zu verdrängen oder gar zu ersetzen – das ist ein oft gehörtes Vorurteil. Für mich bedeutet es: weg vom eurozentrischen, männlich dominierten Kanon hin zu einer weiter gefassten Vorstellung von klassischer Musik, die, um es mal polemisch zu formulieren, nicht ausschließlich Werke “weißer Männer” als Standard akzeptiert.

Welche 3 Komponistinnen in der Musikgeschichte findest du besonders spannend und welche drei aktuellen Komponistinnen begeistern dich gerade?

Da gibt es so viele! Germaine Tailleferre (Link: Guitare https://youtu.be/QUV_gmpO5f0?si=L7hVetjxjkHlDUxy), die sich gegen den Willen des Vaters und zweier (!) Ehemänner für das Komponieren entschied, teilweise unterstützt von ihrem Lehrer Maurice Ravel. Oder Elisabeth Jacquet de la Guerre  –  20 Jahre vor J.S. Bach in Paris geboren, war sie ein echter barocker Superstar und Hofkomponistin für Louis XIV! Ich habe kürzlich eine Cembalosuite von ihr für die Gitarre transkribiert.
Natürlich Hildegard von Bingen, die Mystikerin des Spätmittelalters – allgemein bekannt durch die Kräuterkunde und Rezepte. Sie war aber auch Dichterin, Komponistin und Universalgelehrte. Von ihr stammt das einzige überlieferte mittelalterliche Musikdrama (Link: https://youtu.be/f1sJ91rS0o0?si=UM1pz-CsdcEnTMYO), sowohl Text als auch die Musik.

Von Hildegard lassen sich bis heute Komponist*innen inspirieren, so beispielsweise Sofia Gubaidulina, die 1994 ein Stück für Solo-Alt namens Aus den Visionen der Hildegard von Bingen schrieb. Serenade & Toccata werden einige sicher kennen – zwei wunderbare, bildreiche und ausdrucksstarke Solostücke. Auch sehr lohnenswert ist ihre Kammermusik mit zwei oder drei Gitarren und Streichern – da gibt es abendfüllendes Repertoire für uns Gitarrist*innen zu entdecken.

Aktuell finde ich die junge ungarische Komponistin Petra Szászí bemerkenswert. Ich habe ihr Solostück Hommage à Charles Bukowski (Link: http://www.evabeneke.com/new-album-page ) gerade für ein neues Album aufgenommen – es gibt aber auch ein sehr cooles, rhythmisches Gitarrenquartett, Dyslexia, und ein neues Stück für Cello und Gitarre, welches letztes Jahr von Jesse Flowers und Ildikó Szabó uraufgeführt wurde.

Sonst lohnt es sich natürlich immer, auch ausserhalb der Gitarrenwelt zu forschen – die koreanische Komponistin Unsuk Chin (Link: https://www.nzz.ch/feuilleton/wunderlandmusik-unsuk-chin-erhaelt-ernst-von-siemens-musikpreis-ld.1830886 ) beispielsweise lebt seit vielen Jahren in Berlin und schreibt wahnsinnig tolle Musik, komplex, hochvirtuos, z. B. das Cello-Konzert, oder die als nahezu unspielbar geltenden Klavieretüden - jetzt gehören sie in Klavierwettbewerben bereits zum Repertoire. Als Studentin durfte ich sie einmal kennenlernen. Ich wirkte in einem Orchesterprojekt mit und leider, leider war Mirroirs des temps das einzige Stück aus der Feder einer Frau zu meinen Studienzeiten - immerhin mit Gitarre im Orchester!

Wie glaubst (und hoffst) du wird sich das Thema in 10 Jahren entwickelt haben? Was braucht es, um dem Ungleichgewicht entgegenzuwirken?

Hoffentlich brauchen wir irgendwann diese Diskussionen gar nicht mehr, und können uns auf das Wesentliche - nämlich gute Musik - konzentrieren. Nun ist es aber so, dass vielerlei Faktoren dazu beitragen, ob und wie oft etwas aufgeführt wird. Nicht zuletzt obliegt es Veranstalter*innen und dem Geschmack des Publikums. Aber auch Marketing, Agenturen, die Räder der Musikindustrie und letztlich wir Interpret*innen. Da sind noch einige Schranken abzubauen. Bekanntlich wird Neues immer mit Widerstand begrüßt.

Vorstellen kann ich mir: eine Art “Quote” für Pflichtstücke bei Wettbewerben, Aufnahmeprüfungen, Examensprogrammen – das klingt vielleicht etwas brachial, ist aber in der Kunst und Literatur teils schon der Fall. Im nächsten Semester arbeite ich beispielsweise in einer Gruppe, die für Norwegen einen vielfältigen Katalog für das Aufnahmeprüfungsrepertoire der Musikhochschulen erstellen wird. Zu dem Thema kann ich einen klugen und wichtigen Artikel von Jiji empfehlen, der mich damals sehr bewegt hat: “How audition requirements exclude” (2020) (Link: https://newmusicusa.org/nmbx/how-audition-requirements-exclude/).

Kannst du etwas zu deinem Forschungsprojekt erzählen?

Sehr gerne! Gemeinsam mit zwei fantastischen Kolleginnen haben wir an der Norwegischen Musikhochschule in Oslo ein Forschungsteam zum Thema Challenging Musical Canons (Link: https://nmh.no/en/research/projects/challenging-musical-canons). 

Die beiden kommen aus der Musikpädagogik bzw. der Musikwissenschaft, ich repräsentiere die musikalische Praxis und Lehre sowie künstlerische Forschung. Es geht darum, gängige Standards und Konventionen wissenschaftlich zu hinterfragen – z. B. die Behauptung “Frauen hätten keine relevanten Werke zur Musikgeschichte beigetragen” oder “es gab nunmal in der Vergangenheit nicht so viele gute Komponistinnen”. 

Aber auch Fragen wie: Wie kommt ein Werk in den Kanon? Wer entscheidet das? Was setzt sich durch, und warum? Es ist ja auch so, dass Musikrezension und Musikkritik die längste Zeit fast ausschliesslich von Männern betrieben wurden, ebenso die Verlage. Das ist alles wirklich unglaublich spannend. Dazu wird es dann Artikel geben, Präsentationen, Gesprächskonzerte und vieles mehr.

Wie sensibilisierst und begeisterst du junge Gitarrist*innen (deine Studierenden) für das Thema?

Meiner eigenen musikalischen Suche entsprangen ganz automatisch einige Projekte mit den Studierenden – 2021 hatten wir eine Projektwoche zum Thema “Komponistinnen”. Und im Herbst 2023 – darauf bin ich schon ein bisschen stolz – hat dann die gesamte Musikhochschule in Oslo eine Woche mit Kammermusik von Frauen auf die Beine gestellt. Das ging quer durch alle Instrumente und Abteilungen: Jazz, Klassik und norwegische Volksmusik. Ich habe so viel neues Repertoire kennengelernt! 

Es gab mehrere Konzerte täglich, Uraufführungen, ein studentisches Orchesterprojekt: Die haben ganz ohne Dirigent*in gearbeitet (noch so eine traditionelle Männerposition!) und ein Werk einer 19-jährigen Studentin aufgeführt. Dazu Diskussionen und Gespräche – die Zeit ist einfach reif, Studierende wollen diese Themen aktiv bearbeiten, und zwar jetzt!

Im Einzelunterricht ermutige ich durchaus, Werke von Frauen zu spielen oder zu arrangieren. Im kommenden Herbst wird es eine “Stimme & Gitarre” Projektwoche geben, wo wir das Basso Continuo eben mal zu Arien von Barbara Strozzi (Link: https://youtu.be/XWXAUnXQlhY?si=YEPl5iEsPnHr2e2K ) oder Claudia Sessa aussetzen. 

Generell achte ich viel mehr darauf, auch mal eine Etüde von einer Komponistin vorzuschlagen oder bei Audiobeispielen oder auf YouTube Interpretinnen und Interpreten gleichermaßen rauszusuchen.

Wenn du einen Satz auf ein Plakat drucken lassen könntest, das in riesiger Auflage bei allen (klassischen) Musik-Festivals der Welt hängen würde. Welcher wäre das? 

“Today is the future!”

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